Was wir jetzt für junge Menschen tun können

Es sind herausfordernde Zeiten für viele von uns. Ich möchte dich einladen, mit mir eine der Herausforderungen genauer anzuschauen: Was tun wir, damit die jüngste Generation die Chance hat, zusammenzubleiben, einander zu verstehen und zu respektieren? Viele in den älteren, in meiner, deiner, unserer Generation schaffen es nicht.

Heute lege ich den Fokus darauf, was ich, was du, was wir tun können, um wenigstens für die jungen Menschen eine Grundlage zu schaffen, auf derer sie immer wieder zusammenfinden können. In Wahrheit betrifft uns das alle, unabhängig vom Alter. Ich glaube, die Möglichkeiten, mit respektvollem, liebevollem Miteinander etwas zu erreichen, treffen bei jungen Menschen auf besonders nahrhaften Boden, weil sie sich davon in der Regel noch nicht so weit entfernt haben, wie wir. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir besonders als Eltern oder „junge Menschen Begleitende“ diesen gegenüber in der Verantwortung stehen, ihnen eine friedliche, respektvolle Gesellschaft grundsätzlich zu ermöglichen – und im ersten Schritt mal nicht vollends zu verbauen.

Gerade bekomme ich den Eindruck, dass gesellschaftliche Prozesse im Gange sind, die sich schwer umkehren lassen. Ich spreche dabei nicht in erster Linie von den konkreten praktischen Fragen unserer Zeit, sondern dem übergeordneten unsichtbaren „ideellen“ Boden, den wir damit bereiten. Davon, was Normalität bedeutet für junge Menschen in der heutigen Zeit, von der Struktur unseres Zusammenlebens und ganz besonders der Qualität unserer Beziehungen.

Wir sehen an vielen Stellen das Bedürfnis nach Abgrenzung und offene Konfliktlinien, die als „Kämpfe“ sichtbar werden. Wie können wir junge Menschen so begleiten, dass sie nicht mit diesen Konflikten belastet werden, sondern sie einordnen können als Aufgabe der „Erwachsenen“, während sie ein möglichst unbeschwertes Leben führen können?

Häufig ist das Belastende an einer Krisensituation nicht die äußeren Umstände, für die sich kreative Lösungen finden lassen, sondern die Stimmung. Die Verzweiflung, die Frustration, die Resignation, die Angst, die unsere Kinder oder andere Menschen allgemein in uns spüren, strahlt aus. Wir alle sind in unseren direkten zwischenmenschlichen Beziehungen viel mächtiger, als wir manchmal bewusst wahrnehmen. Die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, macht einen großen Unterschied für uns selbst, unsere Nächsten und eben auch die jungen Menschen, die uns begleiten.

Wenn wir es schaffen, gut und friedlich durch diese Krise des menschlichen Zusammenlebens zu kommen – eine von vielen Auswirkungen der aktuellen Situation – dann haben die jungen Menschen eher die Möglichkeit (nicht die Verantwortung!), freien Herzens aufeinander zuzugehen und sich den Themen ihrer Generation zu stellen.

Alle tun wir bereits unser Bestes, daran glaube ich ganz fest. Fast flächendeckend sind wir besorgt um unsere Zukunft, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Ich kenne keine Eltern, für die die letzten beiden Jahre eine leichte Zeit waren. Wohl gibt es aber jene, die sich ihre Haltung, ihre innere Ruhe und ihre Zuversicht bewahren. Von ihnen inspiriert folgen einige Gedanken, auf die ich mich hin und wieder besinne. Was können wir für junge Menschen tun?

1. Respekt gegenüber anderen Menschen zeigen. Wo immer du kannst, übe dich darin, den Standpunkt der „Anderen“ einzunehmen und versuche nachzuvollziehen, wie sie zu ihren Auffassungen kommen. Auch und gerade dann, wenn sie von deinen Annahmen stark abweichen. Wir sollten mit dem Anspruch an zwischenmenschliche Beziehungen und selbst kurze Begegnungen mit Fremden gehen, mehr Verständnis, Respekt und Liebe in die Welt zu bringen, diese Qualitäten durch uns sprechen zu lassen. Je häufiger es uns gelingt, ruhig zu bleiben, selbst wenn uns jemand angreift, desto leichter wird es für uns und auch für Menschen, die uns dabei erleben. Insbesondere junge Menschen saugen einerseits auf, was ihre Umgebung fühlt und lebt, sind andererseits aber auch mit einem besonderen Gerechtigkeitssinn bei uns.

2. Kontakt zu Menschen halten oder aufnehmen, die „ganz anders“ denken. Es kann so heilsam sein, sich ehrlich miteinander auszutauschen oder einfach einer gemeinsamen Aktivität nachzugehen, auch wenn man in manchen Fragen überhaupt nicht übereinkommt. Kein Mensch wird einen anderen ändern, ändern können wir uns immer nur selbst. Ich selbst habe immens davon profitiert, Menschen in meinem Umfeld zu haben, die „etwas verrückt“ sind, scheinbar aus der Zeit gefallen, außergewöhnliches erlebt und durchgemacht haben oder schlicht vom konträren politischen Ufer. Auch alte Menschen, sehen die Welt häufig mit anderen Augen. All diese Menschen sind in meinem Leben, weil ich den Menschen an sich schätze, ungeachtet seiner Meinung oder dessen, wie er auf eine spezifische Herausforderung reagiert. Es ist sehr wertvoll für junge Menschen, wenn sie im Umfeld der Familie oder des Lernortes Diversität wahrnehmen, wenn sie erleben, dass Gemeinschaft vielfältig ist, dass man sich gut verstehen und unterschiedlich leben, denken, fühlen kann.

3. Klarheit in diffuse Konzepte bringen. Aus meiner Studentenzeit nehme ich mit, dass manche Begriffe und Konzepte ausführlich betrachtet werden sollten. Das kann eine mentale Betrachtung sein, in der ich mir Gedanken mache, was z.B. Solidarität, Selbstbestimmung, Freiheit, Gesundheit usw. bedeutet. Woher der Begriff ursprünglich stammt, was die Lexika darunter verstehen, welche unterschiedlichen Dimensionen der Definition es gibt. Es kann auch eine eher kontemplative Auseinandersetzung sein, ein Einschwingen, Einfühlen in ein Konzept. Junge Menschen sind meiner Erfahrung nach sehr empfänglich, solche Begriffe zu hinterfragen und wertvolle Gesprächspartner*innen. Es tut gut, losgelöst von den tagesaktuellen „heißen“ Themen zu reflektieren, was Begriffe bedeuten oder anhand unterschiedlicher Beispiele gemeinsam darüber nachzudenken.

4. Raum für Gefühle nehmen und geben. Wir alle brauchen Raum für Emotionen. Krisen verlangen uns ab, unsere Unsicherheit, Frust, Trauer, Wut wahrzunehmen und zu integrieren. Wenn jetzt nicht die Zeit gekommen ist, sich vollends zu spüren, wann dann? Je bewusster wir selbst damit umgehen können, desto leichter fällt es auch unseren Kindern. Es geht nicht darum, immer ruhig zu bleiben. Es geht darum, niemandem weh zu tun, wenn wir mal nicht ruhig bleiben können. Vielleicht hast du eine vertraute Person, die du anrufen kannst, wenn dir die Hutschnur platzt. Oder eine Wundertüte, aus der du eine kleine Überraschung zur Beschäftigung für die jungen Menschen hervorzaubern kannst, wenn du dich mal ganz dringend deinen Gefühlen zuwenden musst.

5. Gut für uns selbst sorgen. Selbstfürsorge ist kein Luxus. Wenn es uns nicht gut geht, können wir nicht mit Vertrauen in die Welt gehen. Unsere Bedürfnisse brauchen einen festen Platz, damit wir auch junge Menschen in ihren Bedürfnissen sehen können. Was brauchst du, um stärker in das Vertrauen zu kommen, dass alles gut so ist, wie es ist? In das Vertrauen, dass es gut so ist, wie es ist, auch wenn es nicht deinen Vorstellungen entspricht und dir einiges abverlangt.

6. Achtsam darin sein, welche Szenarien wir entwerfen. Pass auf, welche Bilder du an die Wand wirfst, indem du vor oder mit anderen, insbesondere jungen Menschen, deine Hoffnungen und Ängste ausdrückst. Unsere Schreckensbilder übertragen sich allzu leicht auf unsere Kinder und damit ist niemandem gedient, jedenfalls nicht ihnen. Niemand von uns hat eine Glaskugel – während es hilfreich sein kann, sich unterschiedliche Entwicklungen vorzustellen und auch Gedankenexperimente durchzuführen a la „Was wäre, wenn…“ sollte allen Beteiligten transparent sein, dass diese nur Möglichkeiten darstellen und es gefährlich sein kann, allzu fest an diesen oder jenen Ausgang einer Situation zu glauben.

7. Zuhören. Hör deiner Tochter, deinem Sohn zu, hör echten Menschen und ihren Sorgen zu, von allen Seiten. Wenn wir es schaffen, einander wieder zuzuhören, Brücken zu schlagen und Verbindungen herzustellen, Andersartigkeit wahrzunehmen und zu wertschätzen, dann bereiten wir den Nährboden für eine Generation, die sich auf gemeinsame Werte beziehen kann. Ohne Offenheit wird es nicht gehen.

8. Gib jungen Menschen insgesamt mehr Raum! Befrei sie von deinen und den gesellschaftlichen Erwartungen. Lass sie spielen, lass sie sich treffen, lass sie neue Dinge ausprobieren. Raum zum Atmen. Raum zum Sein. Gib ihnen Anlass zur Freude. Folge ihnen in dem, was sie glücklich macht. Tritt einen Schritt zurück und beobachte, lass Dinge geschehen. Allzu oft sind wir gewohnt, über alles die Kontrolle zu haben und versteifen uns mit wachsender äußerer Unsicherheit noch mehr auf unseren Wunsch, alle Fäden in der Hand zu behalten. Junge Menschen brauchen Freiraum, gedanklich wie physisch! Ach, und: Es ist okay, in Krisenzeiten auf staatliche oder private Unterstützung zurück zu greifen, die es dir ermöglicht, für deine Kinder da zu sein und ihnen ihren Raum zu schenken.

9. Vertritt die Interessen junger Menschen. Dazu sollten wir immer wieder hinterfragen, welche das tatsächlich sind. Hier ein praktisches Beispiel: Wenn ich besorgt über stundenlanges Maskentragen bin, mein Sohn aber lieber die Maske aufsetzt, um in die Schule gehen zu können, ist das okay. Wenn ich selbst große Angst vor Corona habe und meine Tochter andere junge Menschen treffen will, ist das okay. Beide Bedürfnisse haben ihre Berechtigung. Wir dürfen die Bedürfnisse junger Menschen nicht konsequent unterdrücken, nur weil wir selbst andere (z.B. Sicherheits-)Bedürfnisse haben. Häufig ist der Blick auf Bedürfnisse und wahre Interessen verstellt, weil ganz klar ist, was gesellschaftlich oder auch in der Familie erwartet wird. Es braucht Zeit und ein offenes Zuhören, um zu erspüren, was gerade wirklich dran ist, was hinter den oberflächlichen Sorgen und Wünschen steht. Ich denke, insbesondere Eltern sollten genau hinschauen und die Kraft und Zeit aufbringen, die erkannten Interessen der jungen Menschen auch zu vertreten und dafür einzustehen. Junge Menschen haben in dieser Welt leider noch immer keine laute Stimme. Sie brauchen uns.

10. Einordnen. Was mir immens hilft, ist „The bigger picture“. Wann immer möglich, suche und finde ich das Übergeordnete. Das Dahinterliegende, das Tiefergehende. Das geht durch Fragen wie:

  • Warum?
  • Inwiefern?
  • Worum geht es wirklich?
  • Welches Muster kommt hier zutage?
  • Wenn ich die Situation von weit weg betrachten würde, einem Berg oder aus dem Weltall – was könnte ich sehen?

11. Kreative Lösungen finden. Lösungsorientiertes Denken ist der wahrscheinlich praktischste Ratschlag dieser kleinen Liste. Manchmal verwenden wir mehr Energie auf die Analyse des Problems als auf das Finden der Lösung. Wir kommen vom Hundertsten ins Tausendste, schwelgen in gesamtgesellschaftlichen Problemen und kommen am Ende zu dem Schluss „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“. Es hilft, sich eine Liste zu machen mit ganz realen Problemen und einem ersten Schritt zu deren Lösung:

Wo kann mein Sohn Kampfsport lernen?                       Vereine recherchieren/private Trainer Anzeige

Welcher Familienausflug könnte uns gut tun?                Fotos durchforsten, Kinder fragen

Wie können wir uns eine kleine Auszeit verschaffen?     Arbeitspläne abgleichen, Terminvorschläge

Welche Orte gibt es, an denen wir willkommen sind?     Im Bekanntenkreis umhören

12. Konstruktive Konfliktbearbeitung in allen Lebenslagen. Pick your fights – such dir deine „Kämpfe“ gut aus. Mit Rückgrat die eigenen Grenzen setzen und vertreten ist notwendig. Gleichzeitig sollten wir versuchen, uns mit Respekt und Einfühlungsvermögen zu bewegen, die gemeinsame Basis zu sehen, zu spüren, einen friedlichen Weg zu finden. Wie wir im nächsten Umfeld mit unterschiedlichen Meinungen, Standpunkten, Entscheidungen umgehen, spiegelt den größeren sozialen Zusammenhang wider. Wo wir es schaffen, einen Konflikt im direkten Umfeld konstruktiv und friedlich zu leben/gestalten/bewältigen/integrieren, ohne dass wir die Verbindung zum Gegenüber verlieren, da gelingt uns und eben auch unseren Kindern die Übertragung aufs größere Ganze leichter.

Was immer du tust, es macht einen Unterschied. Wenn wir es jetzt schaffen, dass junge Menschen trotz allem als selbstbewusste, unterm Strich glückliche und friedliche, liebende Wesen groß werden können, dann ist so viel erreicht! Dann haben wir als Gesellschaft die Chance, gemeinsam weiterzugehen. Wir sollten unsere Energie darauf richten, das Leben junger Menschen so wenig wie möglich von den Umständen beeinträchtigen zu lassen. Lasst uns ihnen alle Türen öffnen, die wir können!

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