… beginnt so früh oder so spät, wie es dem eigenen Tempo des jungen Menschen entspricht.
Die schulische Annahme, dass Lernen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt auf eine ganz bestimmte Art und Weise funktioniert (wobei sich die „Experten“ dann über die „richtige“ Art und Weise auch streiten), ist obsolet. Schaut man sich an, wie sich junge Menschen in Selbstbestimmter Bildung, ob in demokratischen Schulen oder als Unschooler, das Lesen beibringen, so stellt man fest:
1. Sie alle lernen es.
2. Es gibt so viele unterschiedliche Wege, lesen zu lernen, wie es Lerner*innen gibt.
Ich empfehle zur weitergehenden Lektüre z.B. „Rethinking Learning to Read“ (Harriet Pattison, 2016). Die Autorin beschreibt, wie junge Menschen in Großbritannien’s Home Education Szene lesen gelernt haben, ohne darin klassischen Unterricht zu erhalten.
Es ist nicht nur möglich, es ist sogar beinahe sicher, dass sie früher oder später einen Anlass und die intrinsische Motivation entwickeln, sich die Welt der Buchstaben zu erschließen – mit oder ohne Unterstützung von außen.
Allerdings sollten die Bedingungen zur Selbstbestimmten Bildung auch erfüllt sein – es braucht unterstützende Erwachsene, die ansprechbar sind, wenn der junge Mensch Fragen hat. Es braucht einen freien Umgang mit den Werkzeugen der Kultur – inklusive Büchern, Computer und anderen Medien. Es braucht viel Zeit zum freien Spiel und dafür, dass die jungen Menschen ihren Interessen folgen können.
Wie wir junge Menschen in Selbstbestimmter Bildung am besten beim Lesenlernen unterstützen können, beschreibt auch Je’anna Clements in ihrem Buch „Helping the Butterfly Hatch Book Two: How Can We Support Young People in Self-Directed Education?“
Dazu sollten wir uns mit einigen „alten Ideen“ beschäftigen und diese durch Erkenntnisse aus Selbstbestimmter Bildung ersetzen. Ein Beispiel:
Alte Idee: Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche brauchen besondere Hilfe, sonst lernen sie nicht lesen.
Ersetze durch: Spezielle Hilfe, zu der auch gehört, ein Kind zum Lesen zu drängen, kann eher ein Problem als eine Hilfe sein. SB-Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) scheinen ihren eigenen Weg zu finden, lesen zu lernen, wenn man ihnen Zeit und keinen Druck gibt. Es sieht immer wahrscheinlicher so aus, dass es tatsächlich die Praxis ist, Kinder zum Lesen zu drängen, bevor sie bereit sind, mit Methoden, die nicht zu ihnen passen, was tatsächlich die Leseprobleme verursacht, die derzeit als Teil der LRS angesehen werden. Ohne diesen Druck scheint die mit diesem Begabungsprofil verbundene Leseproblematik nicht aufzutreten. (Je’anna Clements – Quelle; Übersetzung B.G.)
Ich habe mit vielen Familien gesprochen, die frei und selbstbestimmt lernen, weil die jungen Menschen nicht in die Schule gehen wollten oder sich bewusst für andere Bildungswege entschieden haben. Meistens ist das Lesenlernen überhaupt gar kein Problem – besonders neugierige und z.B. auch verbal „starke“ junge Menschen erkunden die Buchstaben, Schriftzeichen, Symbole uvm. oft schon vor dem 5. oder 6. Lebensjahr. Sie spielen damit und lernen so erste Worte, die sie dann häufig ganz unbewusst zu Sätzen zusammenziehen.
Häufig hört man auch, dass junge Menschen irgendwann einfach von allein angefangen haben zu lesen, ohne dass es von außen richtig nachvollziehbar wäre, wie und wann sie es aufgeschnappt haben.
All diese jungen Menschen haben in der Regel nicht zuerst das komplette ABC gelernt, dann die Umlaute, danach erst kurze Wörter, später längere… sie haben Wörter gelernt, die ihnen wichtig waren, die sie häufig sahen, die sie vielleicht vorgelesen bekommen haben oder die sie in Minecraft brauchten, um es richtig spielen zu können. Vielleicht haben sie auch beim Vorlesen mitgelesen, unbemerkt oder laut. Vielleicht waren es Donald-Duck-Comics, Fußballzeitschriften, Sachbücher über Pferde oder spannende Zaubergeschichten, die sie zum Lesen gebracht haben.
Ebenso gibt es junge Menschen, die das Lesen überhaupt nicht interessiert, bis sie 11, 12 oder 13 Jahre alt sind. In Selbstbestimmter Bildung ist das Entscheidende, dass das Umfeld das aushalten kann. Die Erwachsenen, die im Leben des jungen Menschen eine wesentliche Rolle spielen, sollten anerkennen, dass er oder sie selbst verantwortlich dafür ist, im positiven Sinne. So wie das beim Laufen und Sprechen lernen war.
Wir Eltern oder Begleiter*innen waren da, als Vorbilder, Stütze und als Weggefährten, mit unserem Vertrauen, dass sich unsere Kids so entwickeln werden, wie es sich für ein junges Menschlein eben gehört. Sie brauchen dieses Fähigkeiten, sie beobachten sie bei anderen und ahmen sie nach, sie entwickeln selbst Strategien, Gesehenes in den eigenen Erfahrungsraum zu holen. Genauso läuft es beim Lesenlernen auch – wenn wir es zulassen.