Peter Lustig in Lichtenberg

Mädchen sitzt am Tisch über Schachbrett gebeugt, älter Herr mit runder Brille sitzt daneben

Lernbeziehungen, Bildungs-Begegnungen, erhellende Momente im Alltäglichen, weitreichender als institutionalisiertes „Lernen“ in Schulen und Universitäten… Wie begegnen sich Menschen, was lernen sie voneinander, wie können sie sich gegenseitig in ihren Lernprozessen unterstützen und füreinander (Entwicklungs-)Raum halten? Fragen, die mich seit längerem beschäftigen.

Jung, alt; Lehrer oder nicht Lehrer; Frau vom Fach oder Laie; Fremde auf der Straße; Menschen in loser Bekanntschaft, in enger Freundschaft, Wahlverwandtschaft oder Familie – wenn Lernen Leben ist, wohnt jeder Begegnung auch das Potenzial zu einem echten Bildungsmoment inne.

Vor einigen Wochen erlebten meine Tochter und ich eine Situation, die für uns so eine klassische spontane Lernbegegnung war, für sie wie für mich, auf mehreren Ebenen… Eine Beratungsstelle des Jugendamtes, ansässig in einem alten DDR-Bau; wir beide als Begleitung für eine befreundete Freilernerfamilie. Angrenzend ein Abenteuerspielplatz, auf dem an Strandkörben aus Paletten und anderen Sachen gewerkelt wurde, als wir dort waren. Dahinter ein kleiner Teich, ein Biotop mit Seerosen, Schilf, Fröschen. Meine Tochter und ich wollten dort im Garten etwas Zeit verbringen, um zweien unserer Freunde während ihrer Wartezeit Gesellschaft zu leisten.

Meine Tochter entdeckte nach dem Rumstromern auf dem Gelände ein Schild am Hintereingang des Gebäudes, das auf „Reptilien“ verwies. Es lockte uns hinein, wo wir die „Naturwerkstatt“ entdeckten, etwas muffig, niedrige Decken – lebendige Kreaturen in kleinen Aquarien, ein wenig traurig anzusehen. Schildkröten, ein Leguan, eine Schlange. Darüber eine Schautafel und alte Plastikmodelle von weiteren Lebewesen, mit russischer Beschriftung. Alte wackelige Holzstühle, die an Schultische passen. Meine Tochter in diesem antiken Ausstellungsraum – mit lauter Fragen, die ich nicht beantworten kann: Wovon lebt dieses Tier? Warum bewegt es sich nicht – schläft es? Wie alt ist die Schildkröte? Wie sind die alle hierher gekommen?

Wir fanden eine freundliche junge Frau, die uns mitteilte, dass Herr Lustig (der in Wirklichkeit anders heißt) meiner Tochter all diese Fragen sicher gerne beantworten würde. Zu uns kam ein älterer Herr, nicht allzu groß, sportlich, kurzes weißes Haar, Brille, wache Augen. Er erklärte, erzählte, zeigte – und meine Tochter staunte, fragte. Ohne Berührungsangst; diesen alten Mann unbewusst duzend, als wären sie sich nicht eben erst begegnet, sondern schon lange Freunde.

Er spürte diese Vertraulichkeit wohl auch – fand sofort einen Draht zu meiner Tochter und beantwortete bereitwillig all ihre Fragen. Ich entschuldigte mich kurz nach draußen, um nach unseren Freunden zu sehen, die vermutlich gar nicht mitbekommen hatten, dass wir im Haus verschwunden waren. Als ich wieder kam saß meine Tochter in Herrn Lustigs noch etwas obskurerem Hinterzimmer – die Fenster mit Jalousien abgedunkelt, hohe Regale mit ausgestopften Tieren; eine uralte Landkarte verdeckt halb eine Schultafel; in der Mitte ein großer Tisch, mit Schraubstock, darauf hier und da Werkzeuge, Krimskrams; ein Mikroskop, das mindestens 30 Jahre alt ist, in der DDR angefertigt; und an diesem rechteckigen Tisch saßen meine Tochter und Herr Lustig über einem großen Schachbrett.

Er war dabei, ihr zu beschreiben, welche Figuren welche Züge machen dürfen. Sie hörte aufmerksam zu. Dann begannen sie zu spielen – Stufe eins, wie Herr Lustig es nannte, bestand daraus, dass meine Tochter alle Figuren zur Verfügung hatte, Herr Lustig nur den König. Sie übten so eine Weile. Am Ende gewann sie. Der Mann stand auf und holte eine Papierseite aus einem Stapel Unterlagen hervor, darauf etwa zwanzig Vornamen, daneben Striche für die „Stufe“, die die jungen Menschen im Schachspiel mit ihm schon bewältigt hatten. Er fragte nach dem Namen und schrieb ihn zwischen zwei andere, weil nach unten hin kein Platz mehr war. Als Belohnung für Stufe eins bekam meine Tochter ein Bonbon. Ich machte eine Bemerkung, dass ich ja gleich mit Schach lernen könne, was der Herr wörtlich nahm und mich für Stufe zwei geduldig noch einmal von vorne in die Züge der einzelnen Schachfiguren einwies.

Sie spielten so noch eine Weile, insgesamt waren wir schon etwa eine Stunde dort. Der Termin unserer Freunde war fast zu Ende – ich sagte meinem Tochterherz, wir müssten kurz nach draußen. Sie willigte ein mit dem Wunsch, später wieder zu kommen. Draußen traf sie dann noch ein anderes Mädchen, das öfters hierher kam und ihr versteckte Ecken rund um den Tümpel zeigte. Mit Peter Lustig spielte sie dann noch etwa eine weitere halbe Stunde zusammen Schach.

Wir gingen mit dem Gefühl, jederzeit wieder hier willkommen zu sein; mit der Gewissheit, dass dort draußen Menschen jeden Alters sind, die ihren Erfahrungsschatz mit uns teilen; mit der Sicherheit, dass liebenswerte, erkenntnisreiche Momente mit scheinbar Fremden genauso entstehen können wie zwischen Menschen, die sich schon lange kennen.
 
Ein verstecktes Juwel – und wieder ging es nicht um physischen Raum, es war nicht hübsch, es war nicht modern, es war sogar ziemlich muffig und heruntergekommen. Es ging um den Augenblick, um das aufeinander Einlassen, die Freude am Kontakt zu einem anderen offenen Menschen. Noch nicht mal überschwänglich achtsam, es wurde auch gelobt und getadelt, was meine Tochter diesem warmherzigen alten Mann kaum übel nahm, höchstens frech und selbstbewusst kommentierte. Da waren zwei auf Augenhöhe, die sich mochten, Zeit hatten, Gesprächsthemen und Fragen aneinander, Interesse und ich möchte auch sagen, eine unmittelbare Liebe für den Augenblick, für das Eintauchen in die Welt des anderen und das, was entsteht, wenn sich zwei begegnen.

Erstveröffentlichung: 15.12.2018

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